Anlässlich der Feiern zur ersten urkundlichen Erwähnung Himmelsthürs vor 1000 Jahren hat sich der Profilkurs Geschichte im Jahrgang 9 mit der Sozialgeschichte Himmelsthürs in den fünfziger Jahren beschäftigt. Hierzu führte der Profilkurs ein Zeitzeugengespräch mit Herrn Klaus Bange (Jahrgang 1950) über das Leben im Himmelsthür der fünfziger Jahre.
Zur Person des Zeitzeugen: Herr Bange war von 1972-1974 Mitglied im Himmelsthürer Gemeinderat und von 2004 - 2011 im Stadtrat Hildesheim und im Ortsrat Himmelsthür. In den fünfziger Jahren lebte er mit seiner Familie in der Danziger Straße, wo sein Vater Leiter der kath. Grund- und Hauptschule Himmelsthür und später von der zusammengelegten (kath. und ev. Schule) Gemeinschaftsschule war.
Herr Bange wies zu Beginn des Gesprächs darauf hin, dass die Entwicklung Himmelsthürs seit 1945 eine Folge des Angriffskrieges gewesen ist, den Deutschland ab 1939 geführt und verloren hat.
Daher seien nach immer mehr Menschen aus den deutschen Ostgebieten nach Westen geflüchtet, und so seien Flüchtlinge aus Ostpreußen, Westpreußen, Pommern und Schlesien auch nach Himmelsthür gekommen. Durch den Krieg sei Himmelsthür jedoch auch stark zerstört gewesen, da es durch seine Nähe zu Hildesheim und seinen Bahnhof durch die Bombenangriffe auf Hildesheim stark in Mitleidenschaft gezogen worden sei. Deshalb sei Himmelsthür das am stärksten zerstörte Dorf im Umkreis von Hildesheim gewesen. Es habe also ohnehin schon Wohnungsnot und Platzmangel gegeben. Daher habe man die Flüchtlinge zunächst in Baracken untergebracht.
Aus diesem Grund sei Wohnraum nach dem Krieg „zwangsbewirtschaftet“ worden. Das habe bedeutet, dass einheimische Familien, die noch ein Zimmer übriggehabt hätten, dieses für die Flüchtlinge hätten abgegeben müssen. Das habe natürlich zu Konflikten geführt.
Da also die Wohnungssituation und die Bildung für die Kinder der Geflüchteten dringende Probleme gewesen seien, habe man bald damit begonnen, kleine und schmale Reihen-Häuser zu bauen, die billig sein mussten, da die Menschen nicht viel Geld hatten.
Diese Häuser, die zwischen der heutigen Breslauer Straße und der Danziger Straße entstanden seien, hätten meist eine Grundfläche zwischen 60 und 70 Quadratmetern und zwei bis drei Etagen gehabt. Die Häuser seien meist von Familien mit 3-4 Kindern bewohnt gewesen. Im Erdgeschoss seien eine Küche (ca. 6m2), ein Wohnzimmer, das man früher „Stube“ genannt habe, und ein WC gewesen. In der 1. Etage habe sich das Schlafzimmer der Eltern und eins für alle Kinder befunden, wobei die kleinsten häufig noch bei den Eltern auf der so genannten „Besucherritze“ geschlafen hätten. Das WC habe nicht wie heute über eine Dusche oder Badewanne verfügt, denn es habe nur Toilette und Waschbecken gegeben. Es sei damals ein Luxus gewesen, einen mit Holz beheizten Kupferkessel zu besitzen, in dem am Samstag das Wasser für alle warm gemacht worden sei. Die Kinder seien dann in einer Zinkwanne auf dem Küchentisch gebadet worden. Wer so etwas nicht besessen habe, was der Normalfall gewesen sei, habe in ein öffentliches Badehaus gehen müssen. Interessant sei, dass auch die 1957/1958 neu gebaute Himmelsthürer Grundschule im Keller ein solches Badehaus gehabt hätte. Am Samstag sei dort dann für die Familien Badetag gewesen.
Freizeitbeschäftigungen, wie wir sie heute kennen, habe es damals noch nicht gegeben. Die Kinder seien zum Spielen rausgegangen. Es habe in den meisten Familien ein Radio im Wohnzimmer gestanden; sonntags habe sich die ganze Familie um das Radio versammelt und zum Beispiel Hörspiele gehört. Einen Fernseher habe es erst ab Mitte der 60er Jahre gegeben und diesen hätten sich auch nicht alle leisten können.
Die Jugendlichen hätten nach der Schule häufig im Garten helfen müssen, z.B. habe man Obst und Gemüse für den Eigenbedarf angebaut.
Kleidung sei innerhalb der Familie von den Großen an die Kleinen „weitervererbt“ worden, und wenn z.B. eine Hose zu klein gewesen sei, sei sie mit einem anderen Stück Stoff wieder passend gemacht worden. „Markenklamotten“ habe es nicht gegeben. Es sei ein großer Unterschied zwischen der häufig abgetragenen Alltagskleidung und der Sonntagsbekleidung gemacht worden, da sich niemand mit Arbeitskleidung in der Kirche sehen lassen wollte.
So sei Himmelsthür nach dem Zweiten Weltkrieg rasant gewachsen: Habe das Dorf 1946, ein Jahr nach Ende des 2. Weltkriegs, 2224 Einwohner gehabt, so seien es, 1963, 17 Jahre später, schon 6785 Einwohner gewesen.
Zum Verhältnis von Einheimischen und Flüchtlingen merkte Herr Bange an, dass die Flüchtlinge bei den Himmelsthürern wie überall im Westen auf viele Vorbehalte gestoßen seien. Obwohl sie ja ganz genauso Deutsche wie die Einheimischen gewesen seien, hätten sie doch andere kulturelle Traditionen gepflegt und häufig einen anderen Dialekt gesprochen. Es sei für sie ein langer Weg gewesen, bis sie hier anerkannt worden seien.
Doch letztlich habe die Integration in Himmelsthür gut geklappt. Dazu hätten zwei Umstände beigetragen: Zum einen hätten die Flüchtlinge eigene Organisationen zur Vertretung ihrer Interessen und zur Pflege ihrer Kultur gegründet, wie zum Beispiel den „Bund der Vertriebenen“. Zum anderen hätten die Einheimischen schnell begriffen, dass die Flüchtlinge berufliche Kenntnisse mitgebracht hätten, die man in Westdeutschland für den Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg gut gebrauchen konnte. Es habe sogar Belohnungen dafür gegeben, wenn man als Einheimischer einen Flüchtling für den Gewerbebetrieb angeworben habe, in dem man beschäftigt war. So sei auch in Himmelsthür die Zahl der Gewerbebetriebe bis 1963 auf 162 angestiegen.
Insgesamt sei deshalb die Geschichte Himmelsthürs in der Nachkriegszeit und die Integration der Heimatvertriebenen eine Erfolgsgeschichte gewesen.
Wir danken Herrn Bange ganz herzlich für seine Bereitschaft, zu uns in den Unterricht zu kommen.
Dokumentation der Aussagen Herrn Banges durch Charlotta Raue, Klasse 9B